Weder von dir. Noch von anderen.
Das ganze Social Web basiert im Grunde darauf, das Bild von sich, anderen zu vermitteln und in den anderen nur die Bilder zu sehen, die von ihnen vermittelt werden. „Wer bist du?“, ist die erste Standardfrage im Neuen Web. Die Frage nach der Identität. Leg ein Profil an und mach es allen anderen sichtbar. Verbinde dich mit ihnen und zeige das Netzwerk deiner Kontakte. Steigere dadurch deine Reputation und zeige allen, wie wichtig du bist. Lass sie dann darüber reden und berichten. Lass sie deine Worte verbreiten und dich zitieren. Jedes Zitat von dir, jeder Verweis auf dich ist bedeutend. Buchhalter im Web zählen und berechnen deine Reputation. Hitlisten der Ego-Shooter. Selbsternannte Berater helfen dir dabei.
Dein Stellenwert wird öffentlich bilanziert. Dein Kurs an der Börse der Eitelkeiten und am Olymp der Götter. An den fiebrigen Kurven kann jeder erkennen, wie deine Gunst steigt oder fällt. Langsam fängst du an, selber diesen Barometern und an die Bilder zu glauben, die du von dir gemacht hast. Ein fataler Mechanismus.
Das Social Web ist die Sandkiste und Spielwiese der Narzisten.
Es ist kein Zufall, dass sich in den sozialen Medien weit überdurchschnittlich PR- und Marketing-Leute tummeln. Selbstvermarktung und alles andere im Social Web basieren auf diesem Verhalten. Das war zwar früher auch schon so. Nur, jetzt ist daraus eine Riesenmaschinerie geworden. Es ist vollautomatisiert wie die Programme der Investmentbroker, die ihre Papiere ohne menschliches Zutun bei voreingestellten Schwellenwerten kaufen und abstossen.
Ich meine nicht die Sockenpuppenspieler, anonymen Heckenschützen und Trolle. Ich meine die Ich-Marken im Web. Uns alle.
Was ist eine Identität im Web wert? Was hat diese Identität mit der Realität im wirklichen Leben zu tun? In welcher Wechselwirkung stehen die virtuellen Identitäten mit den realen? Wie beinflussen sie sich gegenseitig? Was sind die Chancen und Risiken dabei? Was ist mit denen, die ihre Identität nicht preisgeben? Die vielleicht nur beobachten und zuhören? Existieren sie nicht in der schönen neuen Welt? Jeder kennt die Situationen, wenn wir virtuellen Identitäten im realen Leben begegnen. Selten stimmen sie überein.
Das Leben ist nicht digital. Das Leben ist ein brennender Dornbusch.
Bild: Caravaggios „Narziss“ aus Wikipedia.