PolitCamp10: Kurzer Blick zurück und ein langer nach vorne

Die Sessions beim PolitCamp10 in Berlin haben mich diesmal seltsam unberührt gelassen. Zu langweilig, zu mutlos, zu wenig kämpferisch und manchmal auch zu orientierungslos die Panels, Podiendiskussionen und Vorträge. Zu oft hatte ich das Gefühl, die Kombatanten schwebten 30.000 Fuss über dem Erdboden und waren nicht konkret genug in ihren Aussagen. Es wurde viel über Politik „gesprochen“ und wenig Politik „gemacht“.

Ich frage mich, was hat sich in Deutschland seit den vergangenen 10 Monaten des letzten PolitCamps im Mai 2009 verändert? Hat das erste Treffen von damals Spuren hinterlassen? Hm. Die Parteien und Kandidaten haben jetzt fast alle Twitter und verbreiten ihre Presseerklärungen nun auch über Blogs. Tolle Wurst. In diesem Zeitraum fand aber auch die erfolgreiche Petition gegen Internetsperren statt – mit dem Ergebnis, dass das entsprechende Gesetz einen Tag vor Inkrafttreten ausser Kraft gesetzt wurde. Mehr als 130.000 Menschen hatten sie unterzeichnet. Und die Piraten haben sich zwischenzeitlich gegründet. Zu Internetthemen sind die Webbies also durchaus zu aktivieren und zu mobilisieren. Aber was ist mit all den anderen Themen? Kommunale Themen? Bildung? Arbeit? Kultur? Wirtschaft? Verkehr? Und vieles vieles mehr… Hat sich seitdem etwas entscheidend in der politischen Arbeit in Deutschland geändert?

Vorab: Das PolitCamp ist wichtig. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten in Deutschland auf relativ breiter Basis und parteiübergreifend Engagierte zu treffen, miteinander zu diskutieren und neue Formen der politischen Arbeit kennenzulernen. Das PolitCamp ist in der politischen Landschaft eine feste Institution geworden. Knapp 1.000 Teilnehmer (Fotos!) hatten sich registriert, querbeet aus allen demokratischen Gruppierungen. Valentin Tomaschek und sein Team haben dabei einen grossartigen Job gemacht. Organisation, Technik und Ablauf haben sehr gut funktioniert.

Grossen Dank an das engagierte PolitCamp Team!

Wie schaut es heute aus? Die etablierten Parteien sind für viele nicht mehr attraktiv genug. Viele empfinden sie als hierarchisch und bürokratisch und eher als „macht“getrieben. Für das, was in Deutschland und der Welt passiert, scheinen sie nicht offen genug zu sein für neue Ideen, neues Engagement und neue Strömungen. Es bilden sich immer mehr interesssante und wertvolle politische und soziale Gruppierungen ausserhalb der herkömmlichen Parteiorganisationen. Die politische Landschaft diversifiziert immer mehr, wie auch alle anderen Bereiche des Lebens und der Gesellschaft. Diese Veränderungen ziehen immer stärker an. Vernetzung, und Offenheit wird in solchen dynamischen Landschaften immer wichtiger. Das konnte man auf den PolitCamps deutlich spüren.

Social Networks, BarCamps und andere Unkonferenzen sind wichtig für die basisdemokratische Arbeit. Sie sind das Fundament. Jetzt gilt es aber darauf ein Gebäude zu errichten. Das auf den Camps gelernte umzusetzen in praktische politische Arbeit. Es bilden sich gerade Arbeitskreise hier und dort. Meine Befürchtung ist, dass dort wieder nur geredet und zerredet wird und wenig getan. Ich habe den Eindruck, dass wir nach den BarCamps ein weiteres Format finden müssen für die praktische Arbeit. Kein Camp, sondern vielleicht so etwas wie „Unarbeit“ als nächste Stufe zu „Unkonferenz“. Das Kennengelernte, das Lernen nun auch umzusetzen.

Es geht darum, gemeinsam von den Basislagern der BarCamps in die reale Welt zu ziehen und sie mit demokratischen Mitteln zu verändern und besser zu machen. In praktischen und konkreten Mikroprojekten anfangs. Mit allgemein bürgerverständlichen konkreten Missionen. Ich nenne es mal … SocialAction. Oder SocialMission. Oder BarWork. WorkLabs. Gerne weitere Vorschläge dazu.

Mehr Gedanken dazu demnächst.

Update: Drei Fragen interessieren mich dabei:

1. Was können etablierte Parteien nun tun?
2. Wie können alle (auch die etablierten) den neuen Herausforderungen gerecht werden?
3. Wie setze ich konkrete Mikrovorhaben und Aktionen in die Tat um?

17 Kommentare zu „PolitCamp10: Kurzer Blick zurück und ein langer nach vorne

  1. Die Umsetzung halte ich für einen ganz wichtigen Schritt und in der Tat habe ich – und auch andere – das Gefühl, dass die Politik von heute nur Blablabla ist. Wer tut denn nun wirklich was? Es wäre in der Tat schade, wenn auch die Piraten und andere, neue Gruppierungen sich in diesem Blablabla verfangen würden, oder nur noch Herr ihrer Regeln und Verordnungen wären. Zuerst muss man abstimmen, ehe man was tut?!? Ich persönlich engagiere mich in einer freien Kooperation, die sich um soziale Themen auf kommunaler Ebene bemüht. Und es nervt mich jedes Mal tierisch an, wenn ich bei der nächsten Sitzung erstmal zur Abstimmung aufgefordert werde… nach drei Stunden Abstimmung hat sich keiner konkret dazu geäußert, wann etwas getan wird… Hut ab vor jenen, die sowas länger als einige Monate aushalten. Ich bin seit vier Jahren dabei und warte nur auf die nächste Gelegenheit, diese illustre Runde zu verlassen…

  2. Ich habe bisher ein Open Space mitgemacht (eins der Dt. Telekom) und bin von dem Konzept doch recht mitgenommen. Im echten Leben wird man natürlich nie diesem Wikipedia-Artikel gerecht, denn bei guten Gruppen passen sich Regeln dynmaisch an.

  3. Gute Fragestellung Cem, danke!
    Mir ging selbst durch den Kopf, wie könnte man fortführende „konkrete Missionen“, wie du das nennst , in den kommunalen Raum (Kreis, Kommune, Land) runterbrechen. Ohne dabei Irritationen bei den lokalen Parteien auszulösen.

  4. Über das „Wie“ mache ich mir in den nächsten tagen gedanken und werde hier nach und nach berichten, Peter.

    „Ohne dabei Irritationen bei den lokalen Parteien auszulösen.“

    So würde ich es nicht ausdrücken. Es sind drei Fragestellungen hinter meiner Frage oben:

    1. Was können etablierte Parteien nun tun?
    2. Wie können alle (auch die etablierten) den neuen Herausforderungen gerecht werden?
    3. Wie setze ich konkrete Mikrovorhaben und Aktionen um?

  5. irgendwann 1983 hab ich mal skizziert, wie ich mir vorstelle, dass ich später arbeiten will.

    Damals hatte ich noch nen elektronischen Taschenrechner der programmierbar war und hab an unvernetzen Commodore PETs rumgefummelt.

    Heute würde man das ‚Netzwerk von Freelancern mit Knowledgesharing und P2P-Coaching“ nennen. Ich nannte es dasmals: „DAS TEAM“. Da war ich 19 oder so.

    Ich arbeite immer noch dran und was letzes Jahr starten sollte, gewinnt hoffentlich dieses Jahr Form. Eben genau dieses Netzwerk. Erst die letzen 2-3 tage sind wieder ein paar schritte passiert, dei das alles synergistisch zusammenführen sollen, was ich und andere machen und was uns interessiert.

    Time to ACT.

  6. Cem,

    bevor etablierte Parteien über eine konkrete Migration der Todo’s / Social Action vom politcamp in ihre Strukturen entscheiden sollten doch erst diese Fragen im Raum stehen:

    Wer soll das tun, die Bundespartei für alle anderen Parteistrukturen oder was?

    Können wir das tun, weil auch der richtige Moment dafür gekommen ist / wollen und können wir uns derzeit bewegen?

    Tun wir das auch, wenn andere (Parteien/Stiftungen) bei der Umsetzung der Todo’s / Social Action mit im Boot sind?

    Der letzte Punkt sollte berücksichtigen, dass das Lagerdenken tief in die Köpfe und gelebten Strukturen der Parteien vor Ort im kommunalen Raum eingebrannt ist.

    Wäre schön, dafür Antworten zu finden.

    Peter Löwenstein

  7. Cem, die Frage ist halt immer was man erreichen möchte. Mit dem PolitCamp kriegen wir keine Politikrevolution hin, aber ich denke wir haben damit schon einen Riesenschritt nach Vorn gemacht, wenn man sich mal die Gesprächsbereitschaft zwischen PC09 und PC10 anschauen.

    Immerhin gibt es einige Bundestagsabgeordnete die uns schon signalisiert haben, dass sie bei Bedarf auch komplett das BarCamp-Prinzip unterstützen. Sprich sich ein bzw. zwei volle Tage Zeit nehmen und ganz für spontane Sessions bereitstehen oder sogar welche selbst anbieten würden.

    Vor einem Jahr undenkbar.

  8. Valentin, richtig. Wie ich ja schon schrieb, halte ich das PolitCamp und BarCamps für wichtig als Ort der Begegnung und der direkten Gespräche. Über Grenzen hinweg.

    Der Punkt, den ich im Artikel hervorhebe, ist dass jetzt mehr passieren muss: Das Diskutierte und Gelernte umzusetzen. Das kann auf einem BarCamp nicht passieren. Das muss vo Ort in praktischer Arbeit mit einem konkreten Vorhaben und Anliegen passieren. Das ist das, was ich oben mit Mikrovorhaben meinte.

    PS: Ich freue mich sehr auf das PolitCamp11 :-)

  9. Mir stoßenn gerade die Blog-Würste auf. Sorry, damit möchte ich jetzt keinen verletzten und auch KEINEM zu NAHE treten.

    Danke dir ganz herzlich, dass du dich zu diesen Artikel – getraut hast – ! Was ein Glück, dass wir nicht in China bloggen.

    Veränderung? Orientierungs-losigkeit ?

    Wie traurig, dass uns das „partei-übergreifende“ Engagement nicht wirklich weiterbringt.
    Es ist alles nur ein einziges BLA, BLA, BLA. Da ist es doch endlich einmal an der Zeit, dass sich da jemand „mutig“ zu Wort meldet. DANKE DIR !

    Ich freue mich sehr auf deine weiteren Arikel und und bin voller Zuversicht, dass all‘ unsere Politiker darauf aufmerksam werden und dies dann „politisch“ umsetzben.

    Wäre ja auch schön, wenn z.B. einmal „Anne Will“ auf deiner Seite stöbert und daraus eine – hoffentlich – „effektive“ Sendung produziert (das meine ich jetzt wirklich POSITIV!).

    Oh je, jetzt war ich etwas bissig – so bin ich eigentlich gar nicht – („Udo Lindenberg“).

    Da werde ich vielleicht „ver-kannt“ ?

    LG
    Doris

  10. 1. Was können etablierte Parteien nun tun?

    Nichts. Sie sind alle bis zum Anschlag korrumpiert.

    2. Wie können alle (auch die etablierten) den neuen Herausforderungen gerecht werden?

    Das wollen sie gar nicht. Es soll alles so bleiben, wie es ist. Veränderung könnte die eigene Bedeutung gefährden (Fraktionsgeschäftsführer machen allzu forschen Neulingen im verschlossenen Kämmerlein schnell klar, wie gefährdet das eigene Mandat ist). Neueinsteiger (Grüne, Linke, Piraten) die aus neuen Herausforderungen entstehen, werden vom System schnellstmöglich assimliert (Schwarz-Grüne Schulpolitik in Hamburg – Kraftwerksbau in Hamburg, nur mal so als Beispiel).

    3. Wie setze ich konkrete Mikrovorhaben und Aktionen in die Tat um?

    Mitstreiter suchen und machen. Es war durch die Möglichkeiten zur Kommunikation eigentlich nie leichter als heute. Es ist nur leider auch viel schwerer geworden jemanden für etwas zu begeistern, das ihm keinen unmittelbaren Nutzen bringt.

  11. @Usedomspotter, würde ich so nicht sagen können.

    zu 1: Mag sein. Juckt mich momentan nicht, wenn man etwas ändern will. Motiviert mich sogar eher.
    zu 2: Von „Wollen“ kann keine Rede sein. Sie „Müssen“, wenn sie überleben wollen. Ja, die WasWeissIchVorsitzenden und Honoratioren blocken alles. Das gehört zum Spiel. Und natürlich zu (persönlichen) Machterhalt. Aber mein Wahlspruch ist „Freiheit wird einem nicht gegeben. Freiheit nimmt man sich“. Das war immer schon so. Machen, nicht so viel Taktieren.
    zu 3: Ja, ja, ja. Aber WIE mache ich es. Damit es Erfolg hat. Dazu mehr später.

    Grüss mir mein schönes Usedom…

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