Europawahl 2009: 99 Abgeordnete ohne Legitimation?

Auf den Nenner gebracht: Nur rund ein Drittel der Wahlberechtigten haben heute mit ihren Stimmen 99 Abgeordnete aus Deutschland in das neue Europäische Parlament gewählt. Eine überwältigende Mehrheit von knapp zwei Drittel der Wahlberechtigten haben nicht gewählt oder sie stimmten für eine Partei, die nicht die erforderliche Mehrheit erringen konnte, um in Brüssel oder Strassburg präsent zu sein.

Das ist für mich keine wirkliche Demokratie. Das ist lächerlich. Diese 99 Abgeordneten repräsentieren nicht den Willen der Wahlberechtigen in Deutschland. Sie haben in meinen Augen keine echte Legitimation. In diesem Licht erscheinen mir Diskussionen über Verluste und Gewinne der einzelnen Parteien wie nackter Hohn. Verloren haben heute alle Parteien. Sie besitzen offenbar nicht das Vertrauen der Wählerschaft. Das Europäische Parlament hat heute ebenfalls verloren. Und mit ihm Europa.

Update:

Wie der Wahlleiter und die Parteien es sehen:
CDU/CSU 37,8%, SPD 20,8%, Grüne 12,1%, Linkspartei 7,6%, FDP 10,9% und Andere

Die Wahrheit: Unter Berücksichtigung aller Wahlberechtigten sieht das Ganze doch ziemlich dünn und mickrig aus:
CDU/CSU 16%, SPD 9%, Grüne 5%, Linkspartei 3%, FDP 5% Andere 5% Nicht-Wähler 57%

Update 2: Volker h. Davids hat ein schönes Tortendiagramm zu den Zahlen veröffentlicht. Seine Zahlen scheinen aktueller zu sein als meine von gestern in den frühen Abendstunden. Da stand das endgültige Ergebnis noch nicht fest.

38 Kommentare zu „Europawahl 2009: 99 Abgeordnete ohne Legitimation?

  1. Mh, ich glaube, jetzt kommt es eben mehr auf die Art an, wie man etwas umsetzt. Sprich: wenn ich einen Blog starte, sollte ich schon wissen, welche Themen ich dort behandeln will. Man braucht eben ein Konzept, dann klappt es auch mit den Besuchern. Die Zeiten, in denen man einfach irgendwas im Internet gemacht hat und dann populär wurde, weil es irgendwie anders war, die mögen tatsächlich vorbei sein. Wobei Weblogs ja immer noch nicht allzu populär sind, oder?

  2. Mehr Wahlbeteiligung wäre sicher eine gute Sache, nur dann hätten wir nach diesen Maßstäben in den letzten 50 Jahren kaum einen demokratisch gewählten US-Präsidenten.

  3. Die Frage ist ja: wie niedrig muss die Wahlbeteiligung sinken, damit die fehlende Legitimation endlich mal in der öffentlichen Meinung und im Bewusstsein der Bürger auftaucht? Wenn man die Ergebnisse der Parteien auf die Anzahl der Wahlberechtigten bezieht (anstatt auf die Anzahl der abgegebenen Stimmen) wird es nämlich echt mager…

    Genau aus dem Grund, den Abgeordneten in Europa keine Legitimation zu geben, habe ich übrigens nicht gewählt.

  4. Ich spiele jetzt mal den „Spielverderber“ und merke an, dass man neben Deinen grundsätzlich richtigen Anmerkungen auch einmal ansprechen müsste, dass sich die Wähler es sich allzu oft zuu einfach machen. Parteien und Politiker machen es uns wahrlich nicht leicht. Dennoch gibt es Gruppierungen, die sinnvolle Inhalte als Programm haben und man muss sich halt auch einmal ein wenig auseinder setzen mit Themen, mit Ideen und wenn man das alles nicht will, dann ist es doch vielleicht ein Argument, dass man sich einsetzt, um etwas zu verhindern, dass man gar nicht will. Wie eine inhaltliche Begründung ausschauen könnte, zeigt Anke Grönerhier anschaulich. Mir ist dabei egal, ob man sich nun für die Piraten interessiert oder doch eher für eine andere Partei oder Gruppierung. Ich meine nur: Wir wollen Veränderung? Dann sollten wir dafür einstehen! Und wir sollten dafür (überzeugungs)arbeiten. Just my two Cents ;) ..

  5. @Steffino,
    bitte entschuldige, aber ich halte Deine Begründung, nicht gewählt zu haben, für sehr armselig.
    Nicht wählen heißt: ‚Macht doch, was ihr wollt‘.

    @Cem:
    Es ist sicher nicht verkehrt, wie Du die Dinge darstellst: die Mehrheit steht nicht ausdrücklich hinter den 99 Abgeordneten.
    Aber die Spielregeln der Wahl waren vorher klar. Das Wählen wird den Wahlberechtigten sehr einfach gemacht. Es gibt sogar die Möglichkeit der Briefwahl, für die man keinen besonderen Grund mehr angeben muss.
    Wer dennoch nicht wählen geht (und noch nicht einmal einen ungültigen Stimmzettel abgibt), der erteilt den Abgeordneten einen Freibrief – und darf sich hinterher nicht beschweren.
    Im Nachhinein davon zu sprechen, dass man als Nichtwähler den Abgeordneten keine Legitimation erteilt hat (vgl. Steffinos Kommentar), das ist in meinen Augen undemokratisch.

    Immerhin: auch nach der ‚wahren‘ Berechnung hätten CDU, SPD, Grüne und FDP die 5-Prozent-Hürde geschafft.

  6. @PC’L, die Wähler haben nicht deshalb gewählt, weil es ihnen zu mühselig war, sondern, weil sie nicht wählen wollten. Ihnen hat die Überzeugung gefehlt. Sowohl vom Parteienangebot wie auch für das was in Brüssel und Strassburg passiert. In einem hast du recht: Nicht-Wählen ist ein Freibrief für die Gewählten.

  7. @Peter: Das ist deine Interpretation. Meine ist, wie schon gesagt:

    Nicht wählen heisst, dem (politischen) System keine Legitimation verschaffen.

    Das ist vielleicht ademokratisch, aber sicher nicht undemokratisch. Demokratie heisst für mich immer noch „Herrschaft des Volkes“ – und die kann ich (selbst mit gutem Willen) im Hinblick auf Europa nun wirklich nicht erkennen.

    Im Übrigen muss ich überhaupt nichts begründen, von daher spielt es auch gar keine Rolle wie ‚armselig‘ die Begründung ist.

  8. Dass Nicht-Wählen ein „Freibrief“ für die Gewählten ist, dem kann ich zumindest teilweise zustimmen. Aber fehlt es da nicht an Regelungen, die verhindern, dass eine Partei die nur 16% der wahlberechtigten Bürger haben wollen, an die Macht kommt?

  9. „die Wähler haben nicht deshalb gewählt, weil es ihnen zu mühselig war, sondern, weil sie nicht wählen wollten.“

    Kannst Du das belegen?

    Wenn nicht ist Deine Argumentation genauso wenig von eben jenen Waehlern legitimiert wie das Mandat der Abgeordneten dass sie laut Deiner Aussage nicht gegeben haben.

    Ich halte es fuer sehr gewagt zu behaupten die meisten Nichtwaehler hatten bewusst nicht gewaehlt weil sie mit den Moeglichkeiten nicht zufrieden waren. Die meisten Nichtwaehler interessieren sich vermutlich einfach nicht und kucken lieber die irgendeine Reality TV Show als den Arsch hochzukriegen und sich mal aktiv am demokratischen Prozess zu beteiligen.

  10. @Armin, wären sie wirklich motiviert gewesen, hätten sie gewählt. In den nächsten Tagen und Wochen wird es dazu sicher viele Analysen und Kernaussagen geben. Und somit auch wissenschaftlich fundierte Statistiken.

    PS: Reality TV Shows haben momentan in Deutschland so schlechte Quoten wie die Wahlbeteiligung. Daran kann es also nicht liegen. Mit dem „Arsch hochzukriegen“ könntest du vielleicht recht haben: Die Kleidergrössen haben über die Jahrzehnte zugenommen. Die sind wiederum statistisch bestens erfasst.

  11. „Nichtwählen” ist in einer Demokratie auch ein Statement und ein aktiver Akt – es sagt allerdings nichts über Unzufriedenheit aus, sondern sagt „Ich lasse die anderen entscheiden.“.
    Sie haben also direkt die gewählten Vertreter legitimiert. Wer mit dem Parteienangebot nicht zufrieden ist, hat das Recht sich ein Angebot selber zu schaffen, so sehe ich das.
    Ein anderer Faktor: Den Menschen ist nicht ganz klar, wie wichtig die Europäische Union ist und welchen Einfluß sie hat. Auch auf gesetzgebender Ebene.

  12. Wer freiwillig und eigenständig entscheidet am System nicht mitzuspielen für den wird halt mitentschieden. Demokratie lebt eben -pling- vom Mitmachen. Und Demokratie-Abschaffungsparteien gibt es als Altenative auch genug. Daher meine Analyse: Bequemlichkeit, die sich in Demokratie durch Unterlassung zeigt.

  13. Ich kann mich dem Urteil von Cem leider auch nicht anschließen. Die Höhe der Wahlbeteiligung kann nicht als Maß für die Höhe des „Demokratiegehalts“ gelten. Denn wie einige Kommentatoren schon richtig bemerkten: nicht zu wählen – egal aus welchen Gründen – ist ebenso ein demokratischer Akt wie der Gang zur Urne. Außerdem: was wäre die Alternative? Wahlpflicht? Nur noch eine Partei? Oh no, nie wieder.

  14. Nicht wählen ist eine paradoxe Angelegenheit. Nichtwähler unterstützen die „Gewinner“ der Wahl (da sie ihre Stimme nicht denjenigen gegeben haben, die vielleicht dann „Gewinner“ geworden wären) und gleichzeitig unterstützen Nichtwähler die Randgruppenparteien (egal ob vom linken oder rechten Rand), da kleine Gruppen ein grösseres Mobilisierungspotential haben und somit prozentual gewichtiger ausfallen. Ich bin allerdings davon überzeugt, das den wenigsten Nichtwählern klar ist, was ihre Nichtstimme bewirkt.

    Auf dem Weg zum Wahllokal, hab‘ ich jeden, der mir begegnete, nach dem Weg zum Wahllokal befragt. Ergebnis: 10 Menschen angesprochen, niemand von ihnen wusste etwas von einer Wahl, ergo konnten sie mir auch nicht sagen, wo denn gewählt wird. Nachmittags bin ich nochmal mit den Hunden Richtung Wahllokal um nachzufragen, wie hoch die Wahlbeteiligung im wilden Westen Hamburgs sei. Die Wahlhelfer schätzten 15%. 85% Protest(nicht)wähler? Nein, ich tippe eher auf annähernd 85% Desinteressierte. Oder sollte man eher sagen: Desillusionierte? Ich halte das, in Folge der Weltwirtschaftskrise, für ein gefährliches Potential an Rattenfängeropfern. Und ich befürchte, das wir, in unserer kleinen Geekblase, nur etwas ändern können, wenn wir raus gehen. Zurück ins analoge Leben 1.0. Dort informieren und aufstehen. In unserer Blase hört uns niemand. Ausser, das wir uns selbst hören. Zuwenig, denke ich, angesichts der bedrohlichen Entwicklung und dem was da noch auf uns zukommt.

  15. Es ist so wie le roi es sagt.

    Abgesehen davon – das angebliche „Musterländle“ in Sachen Demokratie ist auch nicht besser (sondern wesentlich schlechter – unter 50% bei den Nationalratswahlen gegenüber knapp 80% Bei BT-Wahlen in Deutschland) bei der Wahlbeteiligung und dort wäre die Bevölkerung demnach auch äußerst unzufrieden:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Wahlbeteiligung#Situation_in_der_Schweiz

    Und die Begründung mit dem „Konkordanz-System“ belegt mithin eher eindrücklich (empirisch beweisbar) das die Sichtweise (nämlich nicht wählen=Zustimmung) auch eine Berechtigung hat. Außerdem ist es ein Anhaltspunkt dafür, das die Wahlbeteiligung noch viel tiefer sinken kann ohne das etwas geschehen wird. Damit ist auch die Begründung „irgendwann geschieht etwas dadurch das man nichts macht“ widerlegbar. So kann man auch sich selbst belügen und Bequemlichkeit rechtfertigen. 99:1 – nicht einmal einer von 1000 der Nichtwähler hat sich über Inhalte anderer zur Wahl stehenden Parteien informiert.

    Grüße
    ALOA

  16. Apropos Geekblase, in meiner Strasse gibt es 5 Piratenwähler. Die Wahlbeteiligung meiner Strasse lag dann doch bei sagenhaften 21%.

  17. Kann kein echtes Mitleid empfinden, wenn sich die 57% nicht repräsentiert fühlen, hätten sie eben Wählen gehen müssen?

    Man kann natürlich argumentieren, dass es schlicht nichts wählbares für sie gab. Dann muss eben irgend jemand eine neue Partei gründen – wenn von den 57% jeder einen € spenden würde, wäre schon mal jede Menge Startkapital da. Selbst wenn das Problem am System liegen sollte (d.h. keine Partei könnte die Wünsche erfüllen), so müsste es eben Bemühungen geben, das System zu ändern.

  18. Ich kann und will dieser Argumentation nicht folgen.
    Wer nicht zur Wahl gegangen ist, ist erstens selbst Schuld und hat seine Chance zur Beteiligung am demokratischen Prozess leider vergeben. Nicht-Wählen hat nichts mit Zeichen setzen zu tun, sondern mit Desinteresse und Bequemlichkeit. Die Piraten-Partei ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass unser demokratisches System gut funktioniert: es ist möglich gemeinsam mit anderen eine funktionierende Alternativ-Partei zu schaffen und antreten zu lassen (ohne von den anderen „exotischen“ Parteien zu sprechen, die zur Wahl standen).

    Natürlich wird man vermutlich nie eine Partei finden, mit deren Ziele man zu 100% übereinstimmt – aber muss man das? Ich kann verstehen, dass viele von den Volksparteien enttäuscht sind, aber bei dieser laaaangen Wahlliste wird sicher jeder eine Partei finden, die seinen Vorstellungen grob entspricht. Nur dazu müsste man sich eben auch mit Politik und den Wahlvorschlägen intensiver beschäftigen – RTL2 schauen reicht da allein auch nicht.

    Und wer sich wirklich nicht vertreten fühlt, dem bleibt mit der Abgabe eines ungültigen Wahlzettels zusätzlich ein deutliches Zeichen – das ist immer noch besser als nicht zu wählen.

    Abgesehen davon finde ich es verdammt schwierig ein Demokratie-Defizit auf europäischer Ebene zu beheben, wenn sich nur so wenige Bürger für Europa interessieren.

  19. Deine Meinung zur Bedeutung von Nichtwählern ist idiotisch! Warum ist es nicht demokratisch, wenn die Leute nicht wählen? Sie dürfen ja wählen. Und das ist doch das wichtige. Wer nicht wählt, muss halt hinnehmen, was gewählt wird. Zwei Drittel der Deutschen reicht das offenbar.

  20. Cem, du begehst einen fundamentalen Denkfehler. Nicht-Wählen ist eine der zentralsten Freiheiten der Demokratie. Der das Recht siuch unsanktioniert seiner Stimme zu enthalten trennt die Demokratie von der Volks-Dikatur.
    Nicht-Wählen ist auch kein Ausdruck des Nicht-Vertrauens. Es kann ebensogut ein Ausdruck des Vertrauens sein. Du implizierst eine Moral, die politischer Partizipation ein Primat über alle anderen Lebensbereiche einräumt, das aber durch nichts legitimiert ist. Diese 99 repräsentieren den Willen der Deutschen, die genug interesse an Politik haben, um zur Wahl zu gehen.

    Die kritische Frage für die Demokratie ist ja, ob diese 99 in der Lage sind gemäß ihrem Mandat für alle Bürger und für das Land zu handeln oder ob sie – wie es auf Bundesebene der Regelfall ist – in eine Klientelpolitik verfallen. DAS halte ich nämlich für die viel größere Gefahr der Demokratie. Dass die Repräsentaten nur ihre Wählerklientel vertreten und nicht die Interessen des Landes.

    Ganz abgesehen davon, wage ich zu bezweifeln, dass die Zahlen fundamental anders ausgesehen hätten, wenn mehr Leute zur Wahl gegangen wären.

  21. Ich werfe jetzt mal noch einen Knochen in die Runde und stelle mal die These auf, dass es auch Gründe gibt, bei der Europawahl nicht wählen. Die EU ist eine Demokratie-Emulation. Eine Kommission, die von den Regierungen in der Art muslimischer Wächterräte zusammengesetzt wird, übernimmt nur meta-demokratisch legitimiert die Gestaltung der europäischen Politik, während das Parlament kein Initiativrecht hat. Mit meiner Stimme würde ich das System legitimieren, was mir höchst zuwider ist. Nebenbei: ich werde mit keiner Partei warm (CDU, SPD und Grüne haben ein Glaubwürdigkeitsproblem und die ersten beiden beleidigen jeden Intelligenz, FDP ist eine Farce, die Linke liegt programmatisch in etlichen Punkten sehr weit von mir entfernt)

  22. @Falk_D Mit der Nichtstimme legitimierst Du die Parteien ebenso; Du stimmst ja der Abstimmungsmehrheit zu. Ein Gegengewicht ist es nicht.

  23. @Chajm: Ich ziehe einen Trennstrich zwischen Wirkung und Aussage. In der Wirkung, da hast Du Recht, steigert sich der Wert der abgegebenen Stimmen, durch meine Enthaltung.
    In der Aussage allerdings wird sich die Politik irgendwann fragen müssen, ob sie noch wirklich legitimiert ist, wenn nur die Hälfte oder noch weniger zu Wahl gehen. Vielleicht kommt man dann auch auf die richtigen Schlüsse, z.B. dass wenn die INSM ihre Leute im Parlament haben will, sie bitte auch unter eigener Flagge zur Wahl antreten sollte.

  24. @FalkD Nichtwählen wird diesen Effekt nicht erzielen. Wer verhindern will, dass die INSM ihre Interessen durchsetzt, kann nur Interessen dagegen setzen und Öffentlichkeit aufbauen. Viele Menschen die etwas nicht tun, bauen diese Öffentlichkeit nicht auf und erzeugen auch keinen Zugzwang. Jedenfalls nicht, solange überhaupt noch jemand gewählt wird.

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