Chance für eine gemeinsame neue Türkei aus der Krise.

Die Lage in der Türkei ist Ernst. Sie erscheint aussichtslos. Das Land scheint in eine totale Eskalation und ins Chaos hinabzugleiten. Die Fronten zwischen Regierung und außerparlamentarischer Opposition sind verhärtet. Aber die Situation ist noch nicht hoffnungslos.

Bei einer weiteren Verschärfung werden alle verlieren. Regierungsanhänger wie auch Gegner. Wichtig ist, jetzt einen Weg für einen ernsthaften, zivilisierten, offenen Dialog miteinander zu finden. Es geht nicht um ein „entweder/oder“, sondern um eine gemeinsame, vernünftige und tragfähige Lösung für das Land zu finden. Hass, Verunglimpfung und Gewalt haben da keinen Platz. Es darf nicht sein, das die eine Hälfte des Landes der anderen Hälfte die Daseinsberechtigung abstreitet. Es sieht momentan unversöhnlich und schwierig aus, es ist aber noch möglich.

Ideal wäre, dass die integrative Figur und der Vermittler für diesen Dialog aus dem eigenen Land kommt und von allen respektiert wird. Am ehesten wäre das augenblicklich der Staatspräsident und Parteifreund von Erdoğan, Abdullah Gül. Er gilt als gemäßigt und diplomatisch erfahren. Ja, er ist nicht meine Idealbesetzung, aber es gibt keinen besseren momentan. Schließlich ist das letztendlich auch die Aufgabe eines Staatspräsidenten einer Republik.

Dabei sollte das Gespräch vorbehaltlos, frei von Ideologien und ohne Taktiererei sein. Ich weiß, es ist fast unmöglich. Aber eben nur fast. Es muss gelingen im Interesse des Volkes und dessen, was es bisher erreicht hat.

Die konservativen-islamischen Kräfte sollten dabei denken, dass wir in einer post-industriellen Welt des 21. Jahrhunderts leben und die Gegner dieser Kräfte sollten daran denken, wie berechtigt ihre Forderungen und Erwartungen an eine moderne und liberale Türkei auch sind, sie müssen auf dem Weg dahin alle Bürger mitnehmen.

Gelingt dieser Dialog erfolgreich, dann wäre das ein Meilenstein in der Geschichte der Türkei und eine wahre Meisterleistung der Demokratie, die ihres gleichen suchen würde. Das ist ein erstrebenswertes Ziel, das alle verfolgen sollten. Es lohnt sich. Und ich hoffe, dass es gelingt. Alles andere wäre ein Desaster. Die allerbeste Lösung ist immer die, die man gemeinsam und intern findet. Dem Volk in der Türkei kann das gelingen. Ich hoffe und wünsche es mir sehr.

Anmerkung: Dieser Post ist heute zunächst bei Facebook erschienen. Er schien mir aber wichtig genug, um ihn hier wieder zu posten.

Anmerkung 2: Der hamburger Regisseur Fatih Akin hat einen öffentlichen Brandbrief (deutsch/türkisch) an den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül geschrieben. Mit ähnlichem Inhalt.

Europawahl 2009: 99 Abgeordnete ohne Legitimation?

Auf den Nenner gebracht: Nur rund ein Drittel der Wahlberechtigten haben heute mit ihren Stimmen 99 Abgeordnete aus Deutschland in das neue Europäische Parlament gewählt. Eine überwältigende Mehrheit von knapp zwei Drittel der Wahlberechtigten haben nicht gewählt oder sie stimmten für eine Partei, die nicht die erforderliche Mehrheit erringen konnte, um in Brüssel oder Strassburg präsent zu sein.

Das ist für mich keine wirkliche Demokratie. Das ist lächerlich. Diese 99 Abgeordneten repräsentieren nicht den Willen der Wahlberechtigen in Deutschland. Sie haben in meinen Augen keine echte Legitimation. In diesem Licht erscheinen mir Diskussionen über Verluste und Gewinne der einzelnen Parteien wie nackter Hohn. Verloren haben heute alle Parteien. Sie besitzen offenbar nicht das Vertrauen der Wählerschaft. Das Europäische Parlament hat heute ebenfalls verloren. Und mit ihm Europa.

Update:

Wie der Wahlleiter und die Parteien es sehen:
CDU/CSU 37,8%, SPD 20,8%, Grüne 12,1%, Linkspartei 7,6%, FDP 10,9% und Andere

Die Wahrheit: Unter Berücksichtigung aller Wahlberechtigten sieht das Ganze doch ziemlich dünn und mickrig aus:
CDU/CSU 16%, SPD 9%, Grüne 5%, Linkspartei 3%, FDP 5% Andere 5% Nicht-Wähler 57%

Update 2: Volker h. Davids hat ein schönes Tortendiagramm zu den Zahlen veröffentlicht. Seine Zahlen scheinen aktueller zu sein als meine von gestern in den frühen Abendstunden. Da stand das endgültige Ergebnis noch nicht fest.

Das Web ist ohne Herrschaft – noch

Benjamin in anmut und demut:

Es kommt aber noch besser. Ich glaube, dass der Erfolg der Blogsphäre nicht zu letzt im herrschaftfreien Raum seiner Organisation liegt. Die Freiheit eines Blogger innerhalb seines Blogs ist absolut und endet ebenso absolut an den Grenzen seines Blogs. Die Blogsphäre ist praktisch eine Implementierung des Aphorismus von Rosa Luxeburgs „Freiheit ist immer die Freiheit Andersdenkender„. Genau dieser Logik folgend – die beinhaltet, dass Freiheit sich über die Anderen definiert – ist auch ein Blog bereits im Moment seines ersten Beitrages ein soziales Gebilde und Teil eines sozialen Netzwerks.

Anzeichen von Hass und Hetze in Europa mehren sich

Canan Topçu fühlt sich in die Ecke gedrängt:

Ich ertrage diese Beleidigungen nicht mehr; die platten Verallgemeinerungen und Äußerungen über den Islam kränken mich. Als Mensch – und als Muslima.

Mit dem Islam verbinde ich vor allem meine Herkunft. Ich bin Tochter türkischer Einwanderer.

Ich kann sie verstehen und fühle mich manchmal ebenso. Ich bin als liberaler Muslim und intergrierter, ja assimilierter, Immigrant halbtürkischer Abstammung genauso erstaunt über meine eigene Reaktionen auf den Hass und die Ignoranz gegenüber Moslems in der europäischen Gesellschaft. 

Ich bin entsetzt über die ständigen Anfeindungen, leichtfertigen Äusserungen und gezielten Provokationen gegenüber einem nicht geringen Teil der eigenen Bevölkerung, den Moslems. Ich bin entsetzt aber auch von den beschwichtigenden Worten europäischer Politiker, die das Thema klein reden.

In Deutschland ist Volksverhetzung eine Straftat, aus gutem Grund. Für ein deutsches Gericht sogar, wenn diese Straftaten im Ausland von Nichtdeutschen begangen werden:

Vergehen, die gemäß § 130 StGB im Ausland begangen werden, gleich ob von deutschen Staatsangehörigen oder von Ausländern, können wie eine Inlandsstraftat verfolgt werden, wenn sie so wirken, als seien sie im Inland begangen worden, also den öffentlichen Frieden in Deutschland beeinträchtigen und die Menschenwürde von deutschen Bürgern verletzen. So reicht es z.B. aus, dass ein strafbarer Inhalt über das Internet, z.B. in Form einer HTML-Seite, von Deutschland aus abrufbar ist.

Der islamfeindliche Internetfilm des niederländischen Politikers Geert Wilders wäre eine Straftat nach deutschem Recht und müsste geahndet werden, wenn die Niederlande selber nicht dagegen vorgehen. Die Wischiwaschi-Erklärungen des niederländischen Ministerpräsidenten Balkenende gestern zu der Sache sind beschämend. Gut, dass wenigstens der Internetprovider den Film von sich aus dem Web genommen hat. Sicher nicht wegen ethischer Bedenken, sondern eher wegen Befürchtungen.

Es geht nicht darum, dass Moslems „beleidigt“ werden. Es geht darum, dass der Hass gegen die eigene muslimische Bevölkerung aufstachelt und damit der Gewalt und Willkür gegen sie Tür und Tor geöffnet werden. Wie schnell ein Progrom selbst in „westlichen zivilisierten Ländern“ und auch selbst in jüngster Zeit sich entfachen kann, lehren uns nicht nur die Geschichtsbücher, sondern lässt sich auch fast täglich in den Nachrichten im Fernsehen verfolgen. Die Kriege in Bosnien sind nur ein Beispiel.

Ich selber bin als kleines Kind aufgrund von Hass, Hetze und gewalttätigem radikalen Nationalismus 1955 als kleines Kind mit meinen Eltern über Umwege nach Deutschland gekommen. Oder auch: Heute, in meiner unmittelbaren Nachbarschaft sind hunderte von Stolpersteinen über ehemalige Nachbarn in den Bürgersteig vor die Haustüren eingelassen. Nachbarn, die systematisch gedemütigt, verschleppt und ermordet wurden in Deutschlands dunkelsten Stunden.

Ich reagiere äusserst sensibel auf mögliche erste Anzeichen von Gewalt und Hass wegen Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe. Das steckt ganz tief in mir. Ich weiss, wozu das führen kann.

Deshalb müssen wir uns diesen gefährlichen Anfängen wehren. Wir müssen diese Entwicklungen ernst nehmen und verhindern. Wir sollten dabei besonnen handeln. Es geht um die Sicherung der fundamentalen Menschenrechte in Europa.

Ich vermisse in Europa das eindeutige Bekenntnis der Völkergemeinschaft zu ihren muslimischen Nachbarn, die hier seit Generation leben und arbeiten. Ich vermisse die konsequente Ahndung von zunehmender Volksverhetzung und Rassismus in Europa.

Sind wir alle im Glauben nicht vom gleichen Stamm? Berufen wir uns nicht alle auf den gleichen Stammvater der monotheistischen Religionen, Abraham? Sind wir nicht alle aus dem gleichen Fleisch und Blut? Teilen wir nicht das gleiche Brot?

[Danke Martin für den Link zum Spiegel-Artikel, aus dem das erste Zitat stammt]

Obama ist der nächste Präsident der Amerikaner

Ein bewegender Tagebucheintrag in „Daily Kos“ über die Rede Obamas über Rassen und Politik, Eine der besten Reden, die ich gehört habe. Mehr als eine Rede. Ein Bekenntnis.

Watching Obama with Strangers in einer Autowerkstatt in Atlanta, Georgia:

Never seen anything like that.  I bet a lot of folks in that dealership were Republicans.  Most, based on snippets of conversation I heard, were Southerners.  Almost all were white.  And they watched, listened, and agreed with what Barack Obama was saying about race in America. 

I decided today that there are a lot of good people in the world.  I decided that after all the slogans, after all the bumper stickers, and after all the excruciating hours of listening to Bill O’Reilly divide us, most folks don’t hate most other folks.  And when someone stands up, and explains the situation clearly, concisely, and directly, they can see that, yeah, we have issues to work through and that, yeah, we need to do something.

Obama ist der nächste Präsident der Amerikaner. Und er wird einer der bemerkenswertesten, die das Land je hatte. Er wird dem Alptraum der Ignoraten ein Ende bereiten. Ein Alptraum, der die Welt seit über sieben Jahren beherrscht. Ein Mann, der seine Wurzeln in vielen genetischen, historischen, kulturellen Wurzeln in vielen Rassen und Völkern hat. Gut für uns alle.